Psychologische Aspekte im politischen Geschehen in Afghanistan

Psychologische Aspekte  im politischen Geschehen in Afghanistan

 

Ein Beitrag von Ludwig Janus

 

Die Mehrheit der Bevölkerung in Afghanistan steht noch  ganz im Bann  mythischer   islamisch-patriarchalischer Strukturen.  Tranceartig  soll für diese das irdische Geschehen  nach den  Vorgaben eines  magisch-mythischen Vaters   gestaltet werden, und zwar nach seinen im Koran  kodifizierten  Vorgaben, wie dies im immer wiederholten „Allahu Akbar“ (Allah ist groß) vergegenwärtig wird. Konkret kommt darin  eine kindliche Hörigkeit dessen irdischen Stellvertretern gegenüber zum Ausdruck und eine elementare Unreife der jungen Männer, die zum großen Teil, wie ihre Mütter, Analphabeten sind. Konkret ist die kognitive Entwicklung für diesen Teil der Bevölkerung auf die Stufe des prärationalen und konkret-rationalen Denkens im Sinne von Piaget begrenzt. Es ist wirklich notwendig, sich in diese psychologischen Gegebenheiten einzufühlen, was man in der üblichen Berichterstattung oft vermisst. Darum hier ein Zitat aus dem Bericht der Unicef (2014) „Overall, 92% of women in Afghanistan feel that their husband has a right to hit or beat them for at least one of a variety of reasons, an alarming statistic.“ „Gründe“ für die Rechtfertigung der Gewalt sind: Verlassen des Hauses ohne Einverständnis des Ehemannes, Vernachlässigung der Kinder, Streit mit dem Ehemann, Verweigerung von Sex mit dem Ehemann oder das Anbrennenlassen von Essen. Im ländlichen Raum (93%) sind die Zustimmungswerte höher als im städtischen (84,8%).“ (Unicef 2014, S. 138, zit. nach Fuchs 2021). Die Gewalt gegen Kinder hat für uns kaum glaubliche Ausmaße und ist ein Hintergrund für die seelischen Verkrüppelung und Entwicklungsblockierungen der sogenannten Kämpfer (Unicef 2014, Fuchs 2021). Dieser Mehrheit gegenüber sind  die von der Moderne beeinflusste Minderheit  und insbesondere die Frauen  in der tragischen Situation  gewaltsamer Einschränkungen, die wir gerade erleben.

Letztlich sind uns die  oben geschilderten  Bedingungen von unserem Mittelalter her gar nicht so fremd. Ein Problem ist sicher, dass diese „Kämpfer“ nicht mehr mit Schwert und Pfeil und Bogen ausgerüstet sind, sondern mit Kalaschnikows und Granaten. Das hat  die Multiplizierung der Zerstörungsinszenierungen zur Folge.

Die besonders in den ländlichen Regionen gewaltdurchtränkten familiären Beziehungen mit massiven Traumatisierungen sind  den patriarchalen Strukturen, wie wir sie aus der Geschichte der Kindheit (deMause 1979) kennen, inhärent. Ein Element ist die gewalttätige Unterdrückung der Frauen und die damit verbundene Traumatisiertheit, die sie an ihre Kinder  weiter geben (Brekhman, Freybergh     2016, u.a.). Die enorme familiäre Gewalt, die heute, wie schon erwähnt,  gut belegt ist (Fuchs 2021, s. auch 2019) ist zwar durch die Kriegsereignisse verschlimmert, bestand aber auch schon früher und ist eben deren Hintergrund. Die „Gotteskrieger“ sind zu einem Teil auf der Ebene der Mentalität des Dreijährigen vor der Erreichung einer „theory of mind“ mit der Fähigkeit zu wechselseitiger Einfühlung und einer moralischen Reflexion stecken geblieben und sind darum zu ihrem infernalischen  Tun in der Lage. Besonders extrem war das, als zwei muhameddinische Führer, Massoud und Hekmatyar, Kabul jeweils im Namen Allahs in Schutt und Asche legten. In noch größerem Maßstab fand das in Europa im Dreißigjährigen Krieg statt. Leider verweigern sich die Geschichtswissenschaften bisher einer psychohistorischen Reflexion der jeweiligen Mentalitäten als einem Bedingungshintergrund für das gesellschaftliche Geschehen, obwohl hierzu viel Material vorliegt (Dinzelbacher  1993, Janus 2011, 2013a, deMause 2005a, 2005b, Janus, Kurth, Reiss, Egloff 2017, Ruppert 2019, u.a. ).

Die äußere Übernahme  von westlicher Lebensform  von  europäisch geprägten  Eliten  in Kabul in den 60er Jahren  täuschte  über die   Wirklichkeit  der  patriarchalen  Strukturen  in ihrem psychobiologischen Charakter  bei der großen Mehrheit  der überwiegend noch  analphabetischen  ländlichen Bevölkerung hinweg,  die sich  durch die modernen Angebote eines  Sozialismus  oder Kapitalismus in ihrer seelischen Beheimatung in einem mittelalterlichen Islam vital  gefährdet fühlte.  Man  verkannte den psychobiologischen  starren Charakter  dieser religiösen Kulturen, die wegen der ihnen inhärenten Gewaltstrukturen zu keinen Veränderungen fähig sind, wie das beispielhaft für die jugoslawischen Bürgerkriege mit ihren schon entwickelteren Strukturen diktatorischer Gewaltherrschaft von Alenka Puhar (2000) analysiert wurde. Nicht nur letztlich galt das ja auch noch für die beiden Weltkriege: wegen der Gewaltstrukturen in den europäischen Familien  war  die durch die  sozialen und technischen Modernisierungen erforderliche Veränderung zu einer individuellen Verantwortlichkeit und der damit verbundenen demokratischen Mentalität und den entsprechenden Strukturen in einer vermittelten Form nicht möglich (deMause 1996, Janus 2018b, u.a.) 

Ein Umgang  mit diesen Gegebenheiten wäre nur  über eine intensive  psychohistorische  und mentalitätspsychologische  Reflexion möglich gewesen. Bei einiger psychologischer Einsicht könnte man die Modernisierungskrise in vielen Ländern der Welt konstruktiv begleiten (s. auch Janus 2016b) und die Milliarden sparen, die die USA für ihre inneren Probleme ja dringend gebrauchen würden. Diese Reflexion konnte aber nicht erfolgen, da auch die westlichen  Gesellschaften zum Teil selbst noch im Bann  von  patriarchal-religiösen Strukturen stehen.  Das gilt insbesondere auch für die amerikanische Gesellschaft mit ihren vielfältigen sektenhaften Kleinkirchen,  die  die  amerikanische  Mentalität  in ihrer Reflexivität entscheidend  eingrenzen, weil der  „American style of life“  eine Art  naiv-religiösen Charakter hat  und gewissermaßen der  externe „Stabilisator“  des  gesellschaftlichen Selbstverständnisses ist.  Da Gewalt  immer noch der  dominante  Lösungsmodus der patriarchal geprägten Strukturen ist,  begegneten sich Amerikaner und Afghanen  in dieser Beziehung auf einer Art archaische Augenhöhe.

Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, dass es heute möglich ist,  destruktive staatliche Strukturen zu reflektieren und ihre Dynamik zu verstehen. Daraus  folgt, dass der entscheidende Ansatzpunkt für eine förderliche Entwicklung der Gesellschaften die Verbesserung der Sozialisationsbedingungen ist (Grille 2005, Janus 2010, Axness 2012, Egloff, Janus, Djordjevic, Linderkamp 2021 u.a.). Die Voraussetzung für ein wirkliches Verständnis dieser Zusammenhänge ist eine Reflexion der eigenen Gewaltmuster aus der patriarchalen Tradition, wo Gewalt die Lösung war. Dabei ist bedeutsam, dass es sich bei der Evolution der historischen Mentalitäten um einen psychobiologischen Prozess handelt, den die bisherigen Darstellungen  in verschiedenen Aspekten erfasst haben (Neumann 1949, Obrist 1988, Dinzelbacher 1993, Dux 2000 (s. auch dazu Janus 2013b), deMause 2005a, Janus 2013a, Oesterdieckhoff 2013a, 2013b, Kaufmann 2015, u.a.). Die Evolution der historischen Mentalitäten als psychobiologischer Prozess  wurde bisher in der öffentlichen Wahrnehmung deshalb  nicht erkannt und benannt, weil sich die jeweiligen Perspektiven als tiefenpsychologisch, psychohistorisch, soziologisch, religionspsychologisch usw. jeweils absolut setzten, während für den Außenstehenden deutlich war, dass es sich dabei „nur“ um Aspekte handelte. 

Darum ist es so wichtig den geschichtlichen Prozess als einen biopsychologischen Prozess wirklich zu erkennen und zu bezeichnen, gerade auch deshalb, weil in den Kulturwissenschaften nach dem Diktum „different but equal“ sogar die Bedeutung dieser Aspekte und damit der ganze evolutionäre Charakter der Menschheitsentwicklung ausgeblendet wird, wenn man so will, um in der Detailforschung nicht gestört zu werden. Wie bizarr diese Situation ist, lässt sich daran zeigen, dass etwa ein Mann, der als Priester in der frühen Neuzeit eine Frau als  Hexe „erkannte“ und zu ihrem Seelenheil verbrennen ließ (Deschner 1989), und heute ein Mann, der sich als Psychotherapeut um die Not einer  Klientin kümmert, nicht „equal“ sind, sondern wirklich  biopsychologisch anders strukturierter Menschen sind. Oder in Bezug auf die heutige Zeit, dass die Mutter, die der Ermordung ihrer Tochter wegen Befleckung der Familienehre zustimmt, keineswegs „equal“ zu einer modernen westlichen Mutter ist, die die Individuation und Emanzipation ihrer Tochter fördert. Letztlich ist es erschütternd und auch sozial unverantwortlich, wenn einem dieses „differen but equal“ von zeitgenössischen Kulturwissenschaftler mit einem treuherzigen Augenaufschlag versichert wird. Mit großer Klarheit hat der Soziologe Oesterdieckhoff die hier klärenden Tatsachen und Zusammenhänge zusammengestellt: „Piagetian cross-cultural psychology indicated that humans living in preindustrial nations do not develop the adolescent stage of formal operations but stay in the preoperational or concrete operational stage. The stage of formal operations originated among intellectual elites of early modern times and became a mass phenomenon in the 20th century.“ (Oerdieckhoff 2021, S. 1). Das heißt eben konkret, Tabliban sind in ihrer Mehrheit durch ein präoperationales und konkret-operationales  Denken und Erlebens  im Sinne von Piaget und Inhelder (1977) charakterisiert, dessen Kenntnis eine entscheidende Voraussetzung für einen konstruktiven Umgang ist. Die Idee, dass hier militärische Interventionen ein sinnvolles Mittel sein könnten, dokumentiert die psychologische Ahnungslosigkeit  der politischen Wissenschaften und der politisch Handelnden und hängt auch damit zusammen, dass auch größere Teile der Bevölkerung in den westlichen Gesellschaften noch in der konkret-operationalen Phase mit deren Beschränkungen befangen sind.

Einen nicht unwichtigen Hintergrund für die Ausblendung dieser Zusammenhänge im Sinne des „different but equal“ sowohl in der akademischen Welt wie auch in den Medien und bei den Journalisten sehe ich in Folgendem: Es sind  ja im Westen im Zusammenhang mit dem Kolonialismus die Angehörigen vieler außerwestlicher Gesellschaften als  „Wilde“ gesehen worden und das wurde mit biologischen und rassischen Aspekten in Verbindung gebracht. Das Unheilvolle dieser Verbindungen führte nach der Ernüchterung des Zweiten Weltkriegs dazu, das man in der akademischen Welt glaubte, sich  durch Ausblendung der Unterschiede über die Formel „different but equal“ in einer Art „polical correctness“ zu befinden und  so souverän die früheren so problematischen Zuschreibungen hinter sich lassen zu  können. Aber die Zeit ist reif, diesen Zusammenhang zu durchschauen und sich aus dieser ideologischen Beschränkung zu lösen. 

 

Literatur

Brekhman G, Fedor-Freybergh P (Eds.) (2016) The Phenomen of Violence.  Download von www.Ludwig-Janus.de.

DeMause L (1979) Hört Ihr die Kinder weinen. Eine Geschichte der Kindheit. Suhrkamp, Frankfurt. 

DeMause L (1996)  Restaging fetal traumas in war and social violence. In Int J of Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine 8: 171–212.

DeMause L (2000) Was ist Psychohistorie? Psychosozial, Gießen.

DeMause L (2005a) Evolution der Psyche und der Gesellschaft. In: DeMause L: Das emotionale Leben der Nationen. Drava, Klagenfurt. S. 171-309. 

DeMause L (2005b) Die Wiederaufführung früher Traumata in Krieg und sozialer Gewalt. In: Das emotionale Leben der Nationen. Drava, Klagenfurt. S. 47-64. 

Deschner K H (1989) Kriminalgeschichte des Christentums. Band 1-10. Rowohlt, Einbek bei Hamburg. 

Dinzelbacher P (1993) Europäische Mentalitätsgeschichte. Kröner, München.


Egloff G, Janus L, Djordjevic D, Linderkamp O (2021) Psychosomatically oriented Obstetrics and Perinatal Medicine. European Gynecology & Obstetrics 3(2): 60-62. 

Dux G (2000) Historisch-genetische Theorie der Kultur - Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Velbrück Wissenschaft,  Weilerwist. 

Fuchs S (2019) Kindheit ist politisch. Mattes, Heidelberg. 

Fuchs S (2021) Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror. 20.08.21 im Blog, „Kriegsursachen, destruktive Politik und Kindheit. https://kriegsur-sachen.blogspot.com.  

Grille R (2005) Parenting for a Peaceful World. Longueville Media, Alexandria, Australia. 

Janus L (2010) Über Grundlagen und Notwendigkeit der Förderung der Elternkompetenz. In: Völlmicke E, Brudermüller G (Hg.) Familie – ein öffentliches Gut. Königshausen und Neumann, Würzburg. S. 207-218.

Janus L (2011) 25 Jahre „Deutsche Gesellschaft für Psychohistorische Forschung“. In:  Langendorf U, Kurth W, Reiß H, Egloff (Hg.) Wurzeln und Barrieren von Bezogenheit. Jahrbuch für Psychohistorische Forschung 12. Mattes, Heidelberg.  

Janus L (Hg.) (2013a) Die Psychologie der Mentalitätsentwicklung. LIT, Münster. 

Janus L (2013b) Rezension von: Günter Dux (2000) Historisch-genetische Theorie der Kultur - Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Velbrück Wissenschaft,  Weilerwist,  In; Janus L (Hg.) (2013) Die Psychologie der Mentalitätsentwicklung. LIT, Münster. S. 207-210.

Janus L (2014) Otto Rank: Der Mensch als Künstler – Kreativität als Wesenskern des Menschen. In: Gödde G, Zirfaß J (Hg.) Lebenskunst im 20. Jahrhundert – Stimmen von Philosophen, Künstlern und Therapeuten. Fink, Paderborn.

Janus L (2018a) Homo foetalis et sapiens – das Wechselspiel des fötalen Erlebens mit den 

Primateninstinkten und dem Verstand als Wesenskern des Menschen. Mattes, Heidelberg.

Janus L (2018b) Psychohistorische Überlegungen  zur Herausentwicklung aus dem „Schlachthaus der Geschichte“. In: Knoch H. Kurth W, Reiß H (Hg.) Gewalt und Trauma.  Mattes, Heidelberg. S. 253-280.

Janus L, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.) (2017) Der Wandel der Identitätsstrukturen und Beziehungen im Laufe der Geschichte. Mattes, Heidelberg.  S. 11-36.

Kaufmann R (2015) Monotheismus - Aufstieg, Zerfall, Umwandlung. opus magnum, Stuttgart. 

Neumann E (1949). Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. Rascher,  Zürich.


Obrist W (1988) Die Mutation des Bewusstseins. Lang, Frankfurt. 

Oesterdiekhoff G (2013a) Die Entwicklung der Menschheit von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife. Springer, Heidelberg. 

Oesterdiekhoff G (2013b) Psycho- und Soziogenese der Menschheit – Strukturgenetische Soziologie als Grundlagentheorie der Humanwissenschaften. In: Janus, L. (Hg.): Die Psychologie der Mentalitätsentwicklung. LIT, Münster.  S. 25-51.   

Oesterdieckhoff G (2021) Different Developmental Stages and Developmental Ages of Humans in History: Culture and Socialization, Open and Closed Developmental Windows, and Advanced and Arrested Development. American Journal of Psychology 134: 217-236. 

Piaget J, Inhelder B (1977) Von der Logik des Kindes zur Logik der Heranwachsenden. Walter, Olten.

Puhar A (2000) Die Kindheitsursprünge des Krieges in Jugoslawien. In: Janus L, Kurth W (Hg.) Psychohistorie, Gruppenphantasien und Krieg. Mattes, Heidelberg.  

Ruppert F (2019) Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Klett-Cotta, Stuttgart.  

UNICEF: Hidden in Plain Sight; A statistical analysis of Violence against children; New York, September 2014. 

 

Adresse des Autors

Dr. med. Ludwig Janus

Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Pränatalpsychologe und Psychohistoriker

Institut für Pränatale Psychologie  und Medizin

Jahnstr. 46, 69221 Dossenheim

Tel. 06221 80 16 50, Mobile 01774925447

janus.ludwig@gmail.com

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www.praenatalpsychologie.de

www.geburtserfahrung.de

 

Anmerkung: Die theoretischen Voraussetzungen dieses Textes finden sich in „Überlegungen zur Psychobiologie des Homo sapiens mit Erläuterungen am Geschehen in Afghanistan“. Download von www.Ludwig-Janus.de.

  

 

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