Wie kann kollektive Verantwortung praktiziert werden?

Wie kann kollektive Verantwortung (institutionalisiert) praktiziert werden?

 

Vor einigen Wochen wurde eine DRI-Studie mit dem Titel „Pfeiler der Entwicklung eines demokratischen Weltparlaments (UNPA). Interdisziplinäre Argumente im Rahmen einer Entwicklungsdynamik“ veröffentlicht.

 

In diesem Beitrag erfolgt eine weiterführende Betrachtung mit dem Schwerpunktthema „kollektive Verantwortung“.

 

Er gliedert sich in drei grobe Bereiche: (I) Eine kurze Darstellung des Inhalts der Studie, (II) vertiefende theoretische Ausführungen zu einem Schwerpunktthema des DRI, „kollektive Verantwortung“, die die absichtlich schlank gehaltene Studie nicht überfrachten sollten, sowie (III) eine Darstellung des Schwerpunktthemas an aktuellen Beispielen. 

 

(I) Zusammenfassung der DRI-Studie

 

Erstes Argument: Die zunehmende Komplexität in allen Bereichen zwingt zu neuen Formen sozialer Organisation. Eine UNPA würde eine zentrale Koordinationsstelle bilden und der Notwendigkeit der Vereinfachung durch eine Erhöhung der Redundanz Rechnung tragen können. 

 

Zweites Argument: Der Umgang mit Gemeingütern ist bei einer Vielzahl involvierter und konfligierender Interessenlagen schwierig. Eine fehlende Abstimmung bei der Nutzung und Bereitstellung dieser, führt jedoch mit höherer Wahrscheinlichkeit zur (auch unbeabsichtigten) Zufügung von Nachteilen. Eine demokratische UNPA würde der Entwicklungstendenz hin zu Fairness im Umgang mit Gemeingütern Vorschub leisten, ohne dass die jeweiligen Parteien übergangen werden. 

 

Drittes Argument: Das Prinzip der Subsidiarität verlangt nicht nur, dass zentralistische Eingriffe in die Aufgabengebiete untergeordneter Systemeinheiten so gering wie möglich gehalten werden sollen, sondern auch, dass untergeordnete Systemeinheiten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt werden müssen (subsidium), spätestens dann, wenn diese damit überfordert sind. Gibt es eine solche übergeordnete Instanz noch nicht, so verlangt dieses Gebot ihre Gründung. 

 

Viertes Argument: Die Übernahme kollektiver Verantwortung (für das Systemganze) durch eine Instanz ist eine (organisatorische) Notwendigkeit, aber stellt ein Desiderat dar, die sich wie folgt zeigt: Die Übernahme konkreter Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verschiedener Institutionen birgt das (latent immer vorhandene) Problem in sich, dass sich Institutionen gegenseitig hemmen können oder Verantwortlichkeiten wechselseitig zuschreiben, wenn eine Aufgabe- bzw. Problemstellung nur peripher oder teilweise im Verantwortungsbereich der jeweiligen Institutionen liegt, was besonders für komplexe Themengebiete gilt. Eine UNPA könnte hier mehr Klarheit schaffen. 

 

Im Speziellen wird in weiterer Folge das vierte Argument hinsichtlich der Frage näher betrachtet: Wie kann kollektive Verantwortung praktiziert werden? Zur Vereinfachung wird die Unterscheidung zwischen ''top-down'' und ''bottom-up'' aufgegriffen. 

 

(II) Worin besteht kollektive Verantwortung? 

 

(A) ''Top-down''-Thematik: Ein Problem im Umgang mit globalen Herausforderungen besteht darin, dass sich Institutionen gegenseitig bei der Umsetzung der Lösungen, bedingt durch ihre unterschiedlichen Aufgabengebiete, gegenseitig hemmen (können), weil es zu Zielkonflikten bei der Erfüllung verschiedener Aufgaben kommen kann, oder die entsprechenden Verantwortlichkeiten anderen Institutionen zuschrieben werden, wenn diese Herausforderungen nur teilweise oder peripher im jeweiligen Aufgabengebiet angesiedelt sind, und/oder zu komplex sind und daher (analog zur Interdisziplinarität in den Wissenschaften) die Zusammenarbeit vieler Institutionen koordiniert erfordern würden. Eine UNPA könnte diese organisatorische Aufgabe erleichtern und Klarheit schaffen, insofern solche Widersprüche offengelegt werden müssten und unklare Verantwortlichkeiten berichtigt werden müssten. Dies ist die Aufgabe einer ''top-down'' Organisation. Der Interessensausgleich zwischen verschiedenen Ebenen ist daher vermutlich eine Hauptaufgabe einer UNPA. 

 

Was heißt in diesem Sinne „Entwicklungsdynamik“: Wenn Verantwortung so definiert wird (siehe Brunnhuber, 2017), dass sie darin besteht, die richtigen Prioritäten zu setzen (Wie?), die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Vorrang besitzen, und zwar mit der Zielvorgabe des Wohls der gesellschaftlichen Umstände (Verantwortung wofür?), gilt es, je nach Zeitpunkt, Prioritäten neu zu ordnen, und nicht bloß nach „Fahrplan“ zu agieren, was als Entwicklungsdynamik bezeichnet werden könnte: Je nach Entwicklungsstand stellen sich neue Aufgaben, Herausforderungen und somit Prioritäten. Der aktuelle Entwicklungsstand ist jedoch eingebettet in einen davor und danach, deshalb sollte das Ziel nicht bloß darin bestehen die Gegenwart zu verwalten, sondern – mit Bedacht auf die nächste Entwicklungsstufe – Prävention auf globaler Ebene zu institutionalisieren, was im Sinne einer Verantwortung für das Ganze die absehbare Zukunft einschließt, d.h. in jedem Fall die zukünftige Vermeidung der Gefährdungspotentiale, die die dauerhafte Funktionsfähigkeit von menschlichen Gesellschaften an sich betreffen. In diesem Sinne würde die UNPA ein wirkmächtiges Symbol für die Etablierung einer Kultur der Prävention darstellen, die den Wert der Prävention ''top-down'' „globalisiert“. 

 

Zudem verliert das Argument im Rahmen einer Entwicklungsdynamik den Vorwurfs-Charakter der „organisierten Unverantwortlichkeit“ (Ulrich Beck), den Gardiner und andere (vgl. Adam/Groves, 2011)) diagnostiziert haben wollen, die aus verschiedenen Gründen resultiert. Wenn es im Rahmen einer Entwicklungsdynamik betrachtet wird, was dem Argument überhaupt erst seine Erklärungskraft verleiht, wird die Systematik offenbar: Es ist davon auszugehen, dass es im Zeitverlauf generell und periodisch zu einer fehlenden Übereinstimmung bei der Widerspiegelung von der L1-Ebene auf Ebene von L2 kommen wird – metaphorisch: „Lücken“ entstehen – , da Institutionen konkrete Aufgaben übernehmen, die an den gegenwärtigen Umständen orientiert sind und nicht alle Probleme der Zukunft antizipierbar sind, sowie sich im Laufe der Zeit neue Herausforderungen stellen, für die diese Institutionen nicht kreiert wurden (siehe DRI-Studie). Der vermutlich wichtigste Beitrag dieses Arguments ist, zu zeigen, dass auf die Entstehung solcher „Lücken“ aus systematischen Gründen permanent geachtet werden muss, da das Entstehen solcher Lücken schwerwiegende Folgen haben kann – auch dies eine Form der Prävention. Es wäre daher falsch den Vorwurf zu erheben, dass Institutionen nicht auf alle erdenklichen Eventualitäten vorbereitet waren und sich jederzeit vollständig umorganisieren können müssen (wegen dem inhärenten Problem der internen Pfadabhängigkeiten). Es ist aber korrekt den Vorwurf zu erheben, wenn sie zu starr agieren oder die Institutionalisierung einer Verantwortung für das Ganze erschweren oder verhindern, denn Anpassung an eine sich ändernde „Umwelt“ (und dies ist im Sinne des globalen Umweltwandels keine bloße ökologische Analogie), ist entscheidend und erfordert ein gewisses Maß an Flexibilität. Deshalb besteht eine Definition für Resilienz darin, Institutionen langsamer Entwicklungszyklen, mit solchen schneller zu koppeln. Dies fördert Flexibilität und verhindert das ''Dinosaur und ''Runaway train''-Problem (siehe Tainter, 1988). 

 

Allerdings steht – basierend auf dieser Argumentation – die Befürchtung einer ''top-down''-Bevormundung im Raum. Dies wird aber dadurch relativiert, wenn verstanden worden ist, dass kollektive Verantwortung stets aus einem Wechselspiel zwischen Individuum und gesellschaftlichem Ganzen resultiert. Andernfalls wäre die Bezeichnung gemäß „kollektiv“ definitorisch inkorrekt. Da gemessen an dem vorherigen Argument Institutionen stets „Lücken“ aufweisen werden, ist die Praxis kollektiver Verantwortung immer auf dem Prüfstand und daher auch immer an ihre fundamentalste Ebene, das Individuum, rückgekoppelt. Da aber ein Individuum faktisch nie hinreichend adäquat Verantwortung für das Ganze übernehmen kann, im Speziellen im Zuge zunehmender Komplexität, sondern nur eigens dafür eingerichtet Institutionen, liegt es in der Verantwortung des Individuums, auf Missstände hinzuweisen, wenn diese von Institutionen übersehen oder forciert werden.  Entscheidend ist jedoch, dass beide Ebenen, jene der Institutionen (''top-down'') und der Individuen (''bottom-up''), ein gegenseitiges Korrektiv in einer Entwicklungsdynamik darstellen, wobei dies auf eine konstruktive Weise erfolgen sollte, in der sich beide Ebenen jeweils gegenseitig positiv beeinflussen und nicht unnötige Konflikte geschürt werden. Massenproteste sind hierfür der wohl bekannteste Ausdruck und Folge einer gewissen Starrheit (mangelnde Flexibilität) seitens der Institutionen. Umgekehrt sollten Individuen Institutionen dabei unterstützen, ihre kollektive Verantwortung zu praktizieren und nicht bloß auf ihr Eigenrecht bedacht sein. Der Lernprozess dieser Lektion des konstruktiven Miteinander beider Ebenen durchzieht bis heute im Gefolge permanenter Verbesserungen die Geschichte. Dieses Zusammenspiel von ''top-down'' und ''bottom-up'' wird unter (III) mittels Beispielen illustriert.  

 

(B) ''Bottom-up'': Theoretisch ist jedenfalls interessant, wie begründet werden kann, dass eine Einzelperson kollektive Verantwortung für das Ganze einer Gesellschaft besitzt. Wie in der DRI-Studie argumentiert wurde, ist diese Behauptung zwar plausibler als ihr Gegenteil, wonach eine einzelne Person lediglich für sich selbst Verantwortung besitzt, aber sie ist keineswegs unumstritten. Im Gegenteil: Bislang dominiert in Weltanschauung und Praxis die gegenteilige Ansicht. Zwar können an dieser Stelle diverse abstrakte Begriffe wie „Verantwortung“, „Ganzes“, „Gesellschaft“ nicht näher betrachtet werden, aber die Grundidee ist leicht nachvollziehbar. Aus gegebenem Anlass der Forderung nach einem Recht auf Schülerstreik, um politische Anliegen aussagekräftig vorzubringen, kann dafür die zum Klassiker avancierte Streitschrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ von Henry D. Thoreau, die Mahatma Gandhis Inspirationsquelle war, herangezogen werden. Darin behauptet Thoreau, bekennender Gegner der Sklaverei, dass sich eine einzelne Person für die Gerechtigkeit einzusetzen habe, auch dann, wenn dies gegen positives Recht verstößt, also etwa gegen Sklaverei auftreten sollte, auch wenn diese vom Staat erlaubt oder vorgeschrieben ist. Lässt man die darin enthaltene Aufforderung zum „Ungehorsam“ beiseite, die weitaus weniger dramatisch ausfällt, als es der nachträglich dramatisierte Titel vermuten lässt, so argumentiert er auf allgemeinerer Ebene – trotz teilweise widersprüchlicher Aussagen im Text – dafür, dass jede Person für das Ganze einer Gesellschaft kollektive Verantwortung besitzt. Diese Argumentation gewinnt scheinbar ihre Legitimation im Rahmen einer Entwicklungsdynamik. So heißt es am Ende des Werks (in einer Übersetzungsvariante): „Der Fortschritt von einer absoluten zu einer eingeschränkten Monarchie und weiter zur Demokratie ist ein Fortschritt hin zu einem wahren Respekt vor dem Individuum.'' (online verfügbar) 

Dies ist im Sinne einer Entwicklungsdynamik schlüssig: In einer Monarchie hat nur der Monarch die Verantwortung für sein Reich inne. Deshalb impliziert dies, dass Individuen nur Verantwortung für sich selbst und/oder ihre nächsten Verwandten übernehmen müssen. Doch schreitet die politische Teilhabefähigkeit zu einer Demokratie voran, so hat das Individuum gemäß seines Wahlrechts auch gesellschaftliche Verantwortung, zumindest jene, sich zu informieren, um möglichst „mündige“ Entscheidungen treffen zu können. Mit anderen Worten: Welche Verantwortung eine Person in einer Demokratie auch immer besitzt, sie besitzt jedenfalls eine wie auch immer geartete Verantwortung für die weitere Entwicklung der Gesellschaft als wahlberechtigte Person. Thoreaus Argumentation ist daher ein Plädoyer für einen Individualismus, der zugleich eine kollektive Verantwortung impliziert. Dieser Individualismus wurde ökonomisch aber auch in seinem Gegenteil verstanden: Das Individuum habe nur für sich selbst und nicht für die Gesellschaft Verantwortung. Auch wenn Thoreau teilweise widersprüchliche Aussagen in seiner Schrift tätigt, so ist sein Abschlussresümee durchaus eindeutig: „Ist eine Demokratie, so wie wir sie kennen, die letztmögliche Verbesserung? Ist es nicht möglich, einen Schritt weiter zur Anerkennung und Regelung der Rechte der Menschen zu gehen? Es wird nie einen wahrhaft freien und aufgeklärten Staat geben, bis der Staat den Einzelnen als höhere und unabhängige Kraft anerkennt, von dem aus sich seine eigene Kraft und Autorität ableitet“. Ideengeschichtlich soll Thoreau die Idee aus dem Werk Antigone übernommen haben, explizit beruft er sich allerdings auf Konfuzius. 

 

Wie sieht die allgemeine Entwicklungstendenz soziologisch betrachtet aus? Nach der Gesellschaftsdiagnose der „Reflexiven Moderne“ (Beck) ist der neugewonnene Individualismus ein „zweischneidiges Schwert“: Einerseits muss die Einzelperson nicht mehr vorgegebenen traditionellen Rollen und normierten Erwartungen entsprechen, sondern darf sich selbst entfalten (verwirklichen). Andererseits hat sie dadurch aber mit gewissen Unsicherheiten (Risiken) umzugehen, weil sie eigene Entscheidungen treffen muss, die die Möglichkeit des Scheiterns implizieren. Das Individuum wird somit in die Freiheit entlassen, aber um den „Preis“, Eigenverantwortung zu tragen. Beides ist daher intrinsisch verknüpft. An dieser Stelle könnte jedoch noch eine Verantwortung für die Gesellschaft seitens des Individuums negiert werden. Bei näherer Betrachtung ist dies fragwürdig. Dies könnte als „Vertrauensgrundsatz“ liberaler Gesellschaften betitelt werden: Eine liberale Gesellschaft kann nur dann (dauerhaft) existieren, wenn Personen ihre Freiheiten auf verantwortungsvolle Weise nutzen. Ist dies nicht der Fall, dann nutzen manche ihre Freiheiten auf Kosten anderer ungebührlich aus. Es werden Einschränkungen nötig, damit die Gesellschaft überhaupt funktionieren kann, die letztlich den Beginn des Endes einer liberalen Gesellschaft bedeuten. Mit anderen Worten: Die Idee der Verantwortung des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen, und damit weiterführend auch für die Gesellschaft, ist der realen Existenz des Liberalismus inhärent, wenn eine liberalistische Gesellschaft das bevorzugte Modell ist. Und wie erwähnt ist sie der Idee der Demokratie ohnehin inhärent. 

 

(III): Beispiele

 

Beispiel 1: Weltfrieden (''top-down''-Herausforderung)

 

2017 wurde von UN-Generalsekretär Guterres der Weltfrieden als das prioritär erstrangige Ziel im Katalog der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) vorgeschlagen. Die ersten Ideen für die Gründung eines Weltparlaments stehen in direktem Zusammenhang mit diesem Ziel, welches angesichts der aktuellen Situationen rund um den Globus an neuer Aktualität gewonnen hat, und etwa im derzeitigen Stand der sogenannten ''Doomsday Clock'' dokumentiert wird, einer nach wissenschaftlichen Kriterien justierten metaphorischen Uhr, die in komprimierter Form einen Indikator dafür darstellen soll, wie hoch das Risiko für weltweite Kriege ist. Selbst Papst Franziskus warnte vor diesem Umstand gemessen an der aktuellen Weltsituation. 

 

Welche Rolle spielt hierfür eine UNPA? Zusätzlich zur Institution als reale Existenz, erfüllt die Gründung einer UNPA mehrere kulturelle Funktionen. Zusätzlich zur genannten Symbolwirkung im Dienste der Prävention sind dies auch Konfliktlösungspotentiale und Bewusstseinsbildung. So wird in der DRI-Studie die These vertreten, dass eine UNPA ein wirkmächtiges Symbol für die Einheit der Menschheit darstellen würde, und somit die Einsicht für kollektive Verantwortung fördert: Es gilt größere Herausforderungen zu bewältigen, als die Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen auf globaler Ebene (siehe Beispiele 2 und 3). Zudem ist sie realpolitisch wichtig, um relevante Interessensausgleiche zu begünstigen. Bereits Thomas Hobbes, dem Ahnherrn der Vertragstheorien in der Ethik, merkte an einer Stelle in seinem „Leviathan“ an, was in einer zeitgemäßen Interpretation für eine UNPA sprechen würde, weil sie der Idee nach besser in der Lage ist, die „Ordnung zu bewahren“, als jede andere derzeit existierende Institution: „Das Zusammenleben ist den Menschen also kein Vergnügen, sondern schafft ihnen im Gegenteil viel Kummer, solange es keine übergeordnete Macht gibt, die sie alle im Zaum hält. […] So sehen wir drei Hauptursachen des Streits in der menschlichen Natur begründet: Wettstreben, Argwohn und Ruhmsucht. […] Und hieraus folgt, dass Krieg herrscht, solange die Menschen miteinander leben ohne eine oberste Gewalt, die in der Lage ist, die Ordnung zu bewahren. […] Der Krieg zeigt sich nämlich nicht nur in der Schlacht oder in kriegerischen Auseinandersetzungen. Es kann vielmehr eine ganze Zeitspanne, in der die Absicht, Gewalt anzuwenden, unverhüllt ist, ebenso Krieg sein. […] Macht doch nicht allein ein Regenschauer das schlechte Wetter aus, sondern ebenso sehr die tagelange Regenneigung.“ (online verfügbar)

 

Zwar wusste Hobbes noch nicht, dass die eigentliche Antriebsfeder des Menschen nicht die Eigensucht oder der pure Egoismus ist, da der Mensch tatsächlich viel stärker auf Fairness und Gerechtigkeit ausgerichtet ist, dennoch argumentiert auch Hobbes mit der „Goldenen Regel“, und er wusste, dass es für die Menschen eine Notwendigkeit darstellt, miteinander zu kooperieren, um größere Herausforderungen zu bewältigen. Denn von sich aus würden sie dies nicht tun, sondern erst, wenn es dafür einen ernsthaften Anlass gibt. Mit anderen Worten: Der Egoismus muss zugunsten eines höheren Zieles überwunden werden, denn „solange ein jeder auf sein Recht beharrt, alles zu tun, was er will, wird der Kriegszustand andauern.“ Im Sinne der SDGs kann dies daher als ein Entwicklungsziel definiert werden, dass genauso Staaten in der internationalen Staatengemeinschaft ihre Pflichten zu erfüllen haben, wie dies Personen innerhalb von Staatswesen tun müssen, damit ein Staat überhaupt funktioniert. 

 

Hobbes Argumentation ist abgesehen von einigen allgemeinen Grundlinien nicht zwingend zeitgemäß. Deutlich stärker am Puls der Zeit ist Samuel Huntingtons Befund, den er mit dem Begriff des „Kalten Friedens“ belegte, und an Hobbes „Regenneigung“ erinnert: eine „heikle Koexistenz“ der internationalen Staaten. Verantwortlich dafür sind „Kernstaatenkonflikte“, eine Bezeichnung, die nach Huntington mehrere Merkmale umfasst, die die internationale Politik auszeichnen, und „in Atem halten“, solange nationale Interessen den Vorrang besitzen: Tatsächlich sind im aktuellen Disput 5 von 6 Huntingtons „klassischen Streitfragen“ aus seinem Werk „Kampf der Kulturen“ präzise erkennbar, denn diese Streitigkeiten betreffen Wettrüsten, wirtschaftliche Hegemonie und kulturelle Wertvorstellungen. Doch im Sinne einer UNPA ist nur die erste klassische Streitfrage relevant: ein zu geringer (relativer) Einfluss internationaler Organisationen zur Förderung globaler Entwicklungen. 

 

Dies kann wie folgt begründet werden: Der Historiker Arnold J. Toynbee merkte in seinem Hauptwerk ''A Study of History'' an, dass die Bewältigung von Krisen durch einen überhöhten Nationalismus behindert wird. Jared Diamond behauptet in seiner aktuellen Publikation „Krise“ das Gegenteil: Staaten bewältigen dann Krisen besonders gut, wenn sie ein starkes Nationalbewusstsein besitzen. Inwiefern sich diese beide Befunde ausschließen oder die Konnotationen bei beiden doch zu einem anderen Verständnis von Nationalbewusstsein führen, soll hier nicht debattiert werden. Wichtiger ist jedoch, dass Diamonds Idee für eine UNPA insofern fruchtbar sein kann, als sie zugleich Toynbees „Korrektur“ enthält, insofern auch ein Globalbewusstsein zur Bewältigung von globalen Krisen nötig sein könnte, welches durch die Gründung einer UNPA in allen Staaten gefördert werden würde: Das Bewusstsein, dass alle Individuen und alle Staaten Teil derselben Menschheit sind, die dieselben Herausforderungen zu bewältigen haben (siehe Beispiele 2 und 3), wenn auch variierend in Art und Ausmaß, würde wachsen. Hegelianisch könnte formuliert werden, dass These und Antithese in einer Synthese aufgehoben sind – ganz im Sinne von Hegels Geschichtsphilosophie. Ohne eine UNPA  besteht die Gefahr, dass dieses Bewusstsein nicht stark genug werden könnte und viele Staaten erneut Nationalismen als Lösungen für globale Probleme propagieren. Dass es sich dabei um eine Illusion handelt, ist vermutlich Konsens in den Sozialwissenschaften. So hat dies für den ökonomischen Zusammenhang bereits Dani Rodrik mit dem Begriff der „Hyperglobalisierung“ beschrieben: Wollen Staaten ökonomisch in Zeiten der Globalisierung bestehen, so ist eine Abschottung kontraproduktiv. Allerdings dient eine UNPA nicht dem Zweck der Auflösung von Nationalbewusstsein – es kam auch nicht zur Auflösung regionaler Traditionen durch die Bildung von Staaten, Stadtstaaten oder Staatenbünden, sondern eher durch andere Prozesse –, sondern es geht lediglich darum einzusehen, dass das Bewusstsein, Teil einer Menschheit zu sein, noch nicht stark genug ist, um globale Herausforderungen zu bewältigen, was häufig auch politische Entscheidungsprozesse bei der Lösung globaler Herausforderungen behindert. Welche realpolitische und rechtliche Form dies annehmen könnte, ist Teil eines demokratischen Entscheidungsfindungsprozesses, doch die ethischen Grundlinien, auf denen diese aufbauen könnte, wurden basierend auf Otfried Höffes Idee des „transzendentalen Tauschs“ in Kombination mit Gardiners Vorschlag einer ''Global Constitutional Convention'' vorgeschlagen, die diese Bewusstseinsbildung fördern würde, aber zugleich die nationalstaatliche Souveränität bewahrt. Um dies an einem konkreten Beispiel zu illustrieren: Gewisse Inselstaaten sind im Zuge der Erderwärmung der Gefahr ausgesetzt, dass deren Landflächen im Meer versinken könnten. Basierend auf Höffes Idee besteht der „transzendentale Tausch“ darin, dass Angehörige eines Staates in der Lage sein müssen, ihre Rechte einzufordern und ihre Pflichten wahrzunehmen. Ist dies nicht mehr der Fall, dann existiert ein solcher Staat nicht mehr (Kollaps), insofern dieser in einem gültigen Rechtssystem besteht, welches exekutierbar sein muss. Die Aufgabe eines Staates wäre es, für diesen Gesellschaftsvertrag erster Ordnung, wie er bereits besteht, Verantwortung zu tragen. Auf Ebene einer UNPA wäre es jedoch die Aufgabe, einen Gesellschaftsvertrag zweiter Ordnung einzuführen, der darin besteht, dass der Schutz zukünftiger Generationen rechtlich insofern realisierbar ist, als ein Staat dauerhaft in der Lage sein muss, dass seine Bürger Rechte einfordern und Pflichten wahrnehmen können. Demokratisch wäre dies insofern, als alle Staaten als Teil der UNPA eben ihre Interessen gemäß Gesellschaftsvertrag erster Ordnung einbringen können sollten, solange diese dass allgemeine Ziel des Schutze zukünftiger Generationen nicht gefährden, d.h. alle Staaten dauerhaft ihren Gesellschaftsvertrag erster Ordnung bewahren können. Gerät aber ein Staat ins Hintertreffen, dann sind die anderen Staaten verpflichtet, Kompensationsleistungen zu erbringen, wie dies auch Höffe klarstellt. Dies ist derzeit nicht verpflichtend der Fall. (Laut Völkerrecht ist die Menschheit in ihrer Gesamtheit kein Rechtssubjekt.) Der Vorteil ist jedoch die Gegenseitigkeit: Analog zu einem Versicherungssystem kann jeder Staat auch für sich im Falle eines Falles Hilf erwarten. Eine Utopie? - keine Frage! Aber unmöglich? Unwahrscheinlich! Das System gegenseitiger Hilfeleistungen würde auch zu mehr Weltfrieden beitragen – so die Idee –, denn wer will schon seinem potentiellen Helfer angesichts des globalen Umweltwandels schwächen? 

 

 

Beispiel 2: Globaler Umweltwandel (''top-down''/bottom-up''-Herausforderung)

 

Der globale Umweltwandel wird in der DRI-Studie als die maßgebliche aktuelle Herausforderung betrachtet, die zur Gründung einer UNPA beiträgt. Um die Frage der „kollektiven Verantwortung“ in diesem Beitrag daher an einem aktuellen Beispiel zu illustrieren, kann erneut das Thema Klimawandel herangezogen und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden – jedoch sei hinzugefügt: der globale Umweltwandel ist weder auf den „Klimawandel“ zu reduzieren, noch dadurch ausreichend erschöpfend beschrieben!

 

Für Manche ist die Erderwärmung eine Glaubensfrage, für andere ein Schwindel (ökonomisch bedingt), eine Verschwörungstheorie (politisch bedingt), eine gesellschaftliche Hysterie (gemäß Diskurstheorie) oder eine wissenschaftlich eindeutig verifizierbare Tatsache (wissenschaftlich bedingt). Das Problem dabei: Die wissenschaftliche Tatsachen lassen sich auf dem Weg der herkömmlichen Argumentation nur über die Kenntnis der wissenschaftlichen Details der empirischen Forschungslage verstehen, denn das Thema Klimawandel ist äußerst komplex und die empirischen Fakten entstammen multi- und interdisziplinärer Forschung. Zudem besitzen rationale Argumente in der Regel nicht die stärkste Antriebsfeder menschlichen Handelns, sondern eher Kultur, Emotionen, Intuition, Heuristiken, Pfadabhängigkeiten, etc. Dieses Dilemma lässt sich aber auf dem Weg der Risikoevaluation umgehen und elegant lösen: Abed/Brunnhuber (2017) haben bewiesen, wie sich Risiken und Risikotrendlagen über Vorwarnungen eindeutig bestimmen lassen. Demnach ist die Kenntnis der Details für die Erkennung des Klimawandels unerheblich: Jede Person jedes Bildungsniveaus kann mit einer simplen Risikoformel die Ereignisse in ihrem unmittelbaren Umfeld und in globaler Perspektive der medialen Berichterstattung (z.B. Häufigkeit und Intensität der Orkane, Taifune und Hurricanes) überprüfen und wird feststellen, dass das Risiko „Klimawandel“ stets zunimmt, d.h. präzise: die Wahrscheinlichkeit (Risikobegriff!) zu gravierenden negativen Konsequenzen nimmt permanent zu! Diese Beweisführung ist simpel, allgemein für jede Person verständlich, und unzweifelhaft aussagekräftig. Mit anderen Worten: Jeder, der den Klimawandel als Phänomen leugnet (Klimawandel-Verleugnung kennt verschiedene Ansatzpunkte), hat etwas Grundlegendes nicht verstanden – könnte gedacht werden. 

Interessanter Weise ist die Klimawandel-Verleugnung als die erste von fünf Stufen auch ein psychologisch verifizierbarer Abwehrmechanismus der Einzelperson: Um sich vor der damit einhergehenden Angst zu schützen, wird er verleugnet. Dies ist eine von mehreren Möglichkeiten der Emotionsregulation, um diese Angst nicht verdrängen zu müssen. Verdrängung (landläufig: „Hinunter-Schlucken“ und „Weiter-Funktionieren“) ist nachweislich die gesundheitsschädlichste Form der Emotionsregulation, auf die bereits Freud hingewiesen hatte. Wenn daher in Schulen das Thema Klimawandel weitgehend debattiert wird, dann ist plausibel anzunehmen, dass gerade Schülerinnen und Schüler eine solche Verdrängung entwickeln könnten, und zwar gerade deswegen, weil die globalen Protestbewegungen aus Angst (präziser: der Verlustaversion vor einer prosperierenden individuellen Zukunft) resultieren. Tatsächlich wurde dies jüngst belegt: 2017 wurde das psychische Phänomen ''Eco-Anxiety'' von der American Psychological Association als Störung anerkannt, die speziell Personen unter 35 Jahren betrifft, und die so weitreichende Auswirkungen haben kann, wie dies Greta Thunberg als Kind erlebte: Ängste und Depressionen, die mit Schlaf- und Essstörungen einhergehen können. In diesem Fall wurde die Emotion von Thunberg nicht verdrängt, aber auch nicht reguliert: Sie wurde erlebt und mit all ihren schädlichen Folgen zugelassen, bis ihre Eltern eine Änderung in ihrem Verhalten vornahmen. Dieses Beispiel kann daher auch so interpretiert werden, dass es die vermutlich sinnvollste und seit etwa 100 Jahren überfällige Maßnahme in Bildungseinrichtungen ist, Kindern und Jugendlichen bereits in frühen Jahren die konstruktiven Möglichkeiten der Emotionsregulation von Kindesalter an beizubringen. Und zwar nicht nur wegen der Klimathematik, sondern als sinnvolle Maßnahme im Umgang mit individuellen und globalen Problemen und Krisen von minimal bis global. Die Methodenlandschaft dazu ist umfangreich! 

 

Diese erste Stufe beschreibt „Klimatrauer“ als Folge eines antizipierten Verlustes, nämlich des eigenen Lebens in der Zukunft bedingt durch den Klimawandel, dessen Folgen immer offensichtlicher werden. Der Klimawandel ist jedenfalls als eine spezielle Zukunfts-Angst anzusehen. Die Motivation der Proteste resultiert in soziologischer Lesart nicht daraus, eine erwünschte Utopie zu realisieren, sondern das Ende der Realisierung jeglicher Utopien zu vermeiden. Und wie die psychologische Forschung eindeutig belegt, sind Maßnahmen, die die Selbstwirksamkeit der Einzelperson fördern, die hilfreichsten zur Überwindung von Ängsten und Depressionen – wie auch Thunberg zeigt: Wer etwas unternimmt, der fühlt sich besser, weil die Person annimmt, dass ihr Verhalten Erfolg zeigen wird, oder zumindest zeigen kann. Die psychologische Forschung nennt dies den ''optimism bias'', der bei einer nicht-depressiven Person Teil der gesunden Psyche ist: Die Annahme, dass das eigene Verhalten das bestmögliche Ergebnis liefern kann. Dies ist jedoch ein „Bluff“: In den wenigsten Fällen wird zwar tatsächlich das bestmögliche Ergebnis erreicht, aber die „Aufgabe“ des ''optimism bias'' ist die Motivation durch Naivität dies erreichen zu können, denn dadurch wird eine Lethargie vermieden, d.h. dank diesem versucht eine Person überhaupt das Bestmögliche zu erreichen und gelangt deshalb überhaupt erst in die Nähe dieses „Besten aller möglichen Ergebnisse“. Allerdings ist der Optimismus ein komplexer Begriff, zu dessen Beschreibung verschiedene Typologien existieren, d.h. „Optimismus“ und „Optimismus“ sind nicht ident. V.a. gibt es ein Problem im Zusammenhang mit einer optimistischen Einstellung, wenn sie zu einer Bagatellisierung führt. Ihre Konsequenzen sind dann dieselben, wie im Falle eines Pessimismus: Inaktivität. Während die pessimistische Einstellung zu einer Lethargie führen kann, v.a. hinsichtlich des globalen Umweltwandels ist dies bekannt, kann ein fehlgeleiteter Optimismus, der zur Annahme führt, es wird ohnehin alles „gut“ ausgehen, zur selben Inaktivität führen. Jens Weidner hat einen sogenannten '“Best-of-Optimismus“ beschrieben: Dieser Optimismus negeirt oder bagatellisert Risiken nicht, sondern im Gegenteil: Wer Probleme im Voraus vermeidet oder lösungsorientiert Maßnahmen entwickelt, kann sich sicherer sein, sein Ziel zu erreichen! Dies passt in etwa zu einem Zitat, welches Albert Schweitzer zugeschrieben wird: In meiner Weltanschauung bin ich Pessimist, aber in meinen Handlungen Optimist. 

 

Die zweite Stufe wird im Rahmen dieses 5-Stufen-Modells, welches angelehnt an die Stufen der Akzeptanz des Sterbeprozesses von Leslie Davenport in ihrem Buch ''Emotional Resiliency in the Era of Climate Change'' entwickelt wurde, als Wut definiert: Davon sind v.a. Personen ab 40 Jahren betroffen. Ihre Verhaltensweisen und die Kultur, im Rahmen welcher sie sozialisiert wurden, wird plötzlich völlig infrage gestellt. Sie mussten in einer Kultur „Karriere“ machen, und sollen nun ihr Verhalten, und dies impliziert unweigerlich auch die Änderung der Denkmuster, die zu diesem Verhalten führen, ändern. Dies ändert zwar wenig an der Problemstellung, doch sollte dies als Mahnung für die Zukunft eine Lehre sein: Leider wurde trotz Jahrzehnten der Forschung und Beweisführung die Faktenlage nicht ernst genommen; eine Situation, wie sie sich aktuell im Zuge der Digitalisierung wiederholt: Erst dann, wenn die Folgen offensichtlich werden, werden auch die Vorwarnungen als solche nachträglich erkannt (doch dazu erst nachfolgend). Nach der dritten Phase der „Verhandlung“, wonach das individuelle Verhalten teilweise adaptiert wird, um nicht das gesamte Verhalten ändern zu müssen, und der vierten Phase „der Kummer und Depression“, in der das Ausmaß des Problems wirklich realisiert wird (Thunberg nutze dafür die Metapher „das Haus steht bereits in Flammen“), wird die fünfte Phase mit neu gewonnener Gelassenheit abgeschlossen: Für das Wohl der Welt ist nicht die Einzelperson verantwortlich, sie ist das Produkt des Zusammenwirkens aller – inklusive ihrer systemischen Regeln! Diese fünfte Phase ist daher eine passende Ergänzung zu dem vierten Argument der DRI-Studie und sollte als Erleichterung aufgefasst werden: Es könnte gleich zu dieser fünften Phase der eigentlichen Erkenntnis gewechselt werden. 

Gemessen an den realen Konsequenzen in der Gegenwart für die Zukunft, bleibt es eine Beschwichtigung, dass die Einzelperson mit ihrem individuellem Verhalten ein globales Problem beheben kann, um nicht den Begriff illusorisch zu verwenden. Individuelles Bemühen ist zwar eine sinnvolle Maßnahme für die psychische Gesundheit einer Person, doch hinreichend ist sie nicht: Der Klimawandel ist ein globales Phänomen! Entscheidend ist daher, dass erst dann ein Gewinn erwirkt wird, wenn die Regeln des Systems geändert werden (''System Change''). An einem Beispiel: Auch wenn die Zahl der Vegetarier ständig steigt, die Wachstumslogik gilt auch im Sektor der Fleischprodukt – und zwar rund um den Globus! Deshalb ist auch der Klimawandel ein Phänomen, welches sich nur durch eine ''top-down''-Maßnahme lösen lässt, die das Verhalten aller global relevanten (!) Akteure koordiniert. Dies könnte zu einer pessimistischen Denkweise anregen, doch das DRI vertritt in besagter Studie die These einer historischen Entwicklungsdynamik, wonach globale Herausforderungen eventuell zwingend nötig sind, damit die Menschheit als Einheit global agieren lernt, d.h. größere Kooperationseinheiten schafft, die die entsprechende Reichweite wirksamer Maßnahmen umsetzen können. 

Die systemischen Regeln dürfen daher auch nicht falsch verstanden werden, d.h. die Rolle der Einzelperson darf nicht maßlos überschätzt werden: Werden nämlich einzelne Personen in die Pflicht genommen, aber die „Regeln“, nach denen das System (!) funktioniert nicht verändert, dann bewirkt dies wenig, und die Einzelpersonen werden wütend, frustriert und Proteste entstehen, mit einer zusätzlich problematischen Folge: Umweltmaßnahmen werden unbeliebt und es kommt zu Auflehnungen, mit dem daraus resultierenden folgenschweren Problem, dass eine umweltschädliche Kultur einzementiert wird. Um dieses Argument zu erklären, zunächst eine (a) Entkräftung und sodann eine (b) Rechtfertigung: Einzelnen (!) Personen Verhaltensvorschriften zu machen, ist an und für sich gemessen an der globalen Dimension selbsterklärend fragwürdig, speziell aber dann, wenn Ihnen erklärt wird, ihr eigenes Verhalten würde einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung des „Klimawandels“ leisten, wie es immer noch häufig propagiert wird – eine Meinung, die sich auf die Suffizienz-Strategie nachhaltiger Entwicklung gründet, wie sie prominent der Ökologische Fußabdruck als Maßeinheit definiert. Allerdings: Es sind nicht die aggregierten Handlungen einzelner Personen, die eine Trendwende einleiten, sondern die Logiken des Systems: Gesellschaften folgen ihren eigenen Regeln und Logiken. Am DRI ist zu diesem Thema seit vier Jahren ein Interventionsmodell in Arbeit, welches als konstruktiver Vorschlag zur Lösung dieser Problematik konzipiert wurde (die Skizze dazu findet sich in Brunnhuber, 2017). Dies wird in der Systemwissenschaft als „Emergenz“ bezeichnet: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – so lautet eine auf Aristoteles zurückgehende allgemein bekannte Vereinfachung. Wird daher die Einzelperson in die Pflicht genommen, während das System, welches wegen seiner Eigendynamik überhaupt erst dieses Probleme in globaler Dimension erzeugt hat, nicht geändert, dann „kämpft“ die Einzelperson gegen ein System, gegen welches es nichts ausrichten kann, mit den psychologisch verheerenden Folgen eines „schlechten Gewissens“, d.h. negativer Emotionen, die sie nicht auf Dauer aushalten kann und daher zu einem Verhalten zurückkehrt, welches verträglicher wird (kognitive Dissonanzen) mit dem Problem, das eingangs erwähnt wurde: Die erste Stufe psychologischen „Copings“ im Umgang mit dem Thema Klimawandel wird eine attraktive Option. Um diese Entkräftung anders zu formulieren: Zur Berechnung der Umweltwirkungen in der Humanökologie gibt es eine einfache Faustregel: Große Posten zuerst, dann mittlere Posten, zuletzt die kleinen Posten. Wird die Klimathematik betrachtet, dann drängt sich aber ein anderes Bild auf: Die kleinen Posten zuerst, d.h. die Verpflichtung der Bürger zu umweltbewussten Verhalten, während die EU problematische Freihandelsverträge beschließt, die das individuelle Verhalten verhöhnt, konterkariert und überkompensiert.  Entscheidend ist letztlich: Die Reichweite einer Maßnahme muss weit genug gehen, damit sie überhaupt erfolgsversprechend sein kann! Oder: die großen Posten zuerst. Die Vernachlässigung der großen Posten könnte dagegen durch eine UNPA ein Ende finden. Um daher Umweltmaßnahmen nicht unnötig unbeliebt zu machen, kann daher mit einer Maßnahmen begonnen werden, die intuitiv einleuchtend ist: Fair wäre es, wenn jene, die am Meisten zur Erderwärmung beitragen, auch am Meisten zur Eindämmung beitragen sollten. Auch die Maßeinheit des Ökologischen Fußabdruck impliziert nicht eine solche naive Behauptung des wesentlichen (!) Beitrags des Einzelnen, sondern berücksichtigt den sogenannten „grauen Fußabdruck“: Jener ökologische Fußabdruck, den eine Person alleine durch die Tatsache erhält, dass sie in einem bestimmten Land aufwächst und als physische Person in der vorgefundenen Infrastruktur situiert ist (abhängig vom Grad der Industrialisierung). Ruhig schlafen werden daher erst dann wieder alle Betroffenen können, wenn seitens der wirkmächtigen politischen Akteure wirksame Maßnahmen getroffen wurden. Die Suffizienz-Stategie reicht zwar nicht, sie ist aber auch immer im Zusammenhang mit den anderen drei großen Strategien nachhaltiger Entwicklung zu verstehen, v.a. der Effizienz-Strategie, die andernfalls nahezu immer zum berüchtigten Rebound-Effekt führt, wenn sie nicht durch die Suffizienz-Strategie ein Korrektiv erhält. Beide alleine sind unzureichend. Um das Thema der historischen Schuld zu umgehen – diese könnte aber auch durch nachträgliche Kompensationsleistungen berücksichtigt werden: Pragmatisch betrachtet sind alle anderen Maßnahmen nachrangig. Andernfalls wird sich dieses Problem kaum lösen lassen. Wegen dieses Entgegenkommens sollten aber im Gegenzug auch gewisse Vorteile gewährt oder Nachteile vermieden werden. Doch darauf ist hier nicht einzugehen, sondern relevant ist an dieser Stelle lediglich die Konklusion: Solche Maßnahmen können nur global agierende Institutionen umsetzen. Mit Bezug auf Hobbes wurde festgehalten, was in einer Metapher so zusammengefasst werden kann: Wenn in einem Haushalt jeder nur nach seinen Interessen handelt und niemand auf das Ganze achtet, dann entstehen Probleme und Konflikte. Das gilt natürlich auch global. Wir benötigen Regeln für alles Gemeinsame (Commons). 

 

Das individuelle Verhalten leistet tatsächlich einen wesentlichen Beitrag, doch dieser ist weniger in der Reichweite der Konsequenzen zu verstehen, als vielmehr in seiner kulturtransformierenden Kraft: Jeder individuelle Beitrag zum „Klimaschutz“, den eine einzelne Person unternimmt, fördert eine Kultur, die die Akzeptanz des „Klimaschutzes“ forciert und die andere Personen zu gleichem Verhalten motiviert, da der sichtbare Ausdruck von Kultur im Verhalten einzelner Personen nach zwei maßgeblichen Parametern funktioniert: „Imitiere die Mehrheit“ (auch sogenanntes „Modelllernen“) und „Vermeide (kulturell) verpöntes Verhalten“ (Tabus/Stigmata). Unhinterfragt ist sowohl das Phänomen „Kultur“, als auch die Persönlichkeit einer Person komplexer. Dennoch geben diese beiden Parameter auf die Frage „Wie wird Kultur reproduziert?“ eine hinreichend präzise Antwort. In dieser Weise kann eine Einzelperson kollektive Verantwortung wahrnehmen, und so einen Beitrag zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft leisten, wenn sie sich fragt: Welche Art von Kultur reproduziert „mein“ individuelles Verhalten? Als ein Spezialfall davon kann die Zivilcourage verstanden werden: Wenn du einen Missstand wahrnimmst, und nichts dagegen unternimmst, dann machst du dich vielleicht nicht an dem konkreten Missstand schuldig, aber dann förderst du im Allgemeinen eine Kultur der falschen (!) Toleranz. Unternimmst du aber etwas dagegen, dann trittst du zugleich für das „Gute“ oder die Gerechtigkeit oder dergleichen und gegen das Unrecht ein. Das konkrete Verhalten in einer konkreten Situation ist daher ein Symbol für das Eintreten für höhere Ideale und Werte. Auch wenn die systemischen „Regeln“ der Gesellschaft aus der Kultur erwachsen, ist es einfacher ad-hoc die Regeln des Systems zu ändern, als die über Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte angewachsene Kultur, die daher schwerfällig zu ändern ist, weil sich tradierte Denkweisen oder Selbstverständlichkeiten (''tacit knowledge'') in die Psyche der Angehörigen einer Kultur „eingenistet“ haben – zumindest solange die Gesellschaft nicht vollautomatisiert ist, wird dies auch so bleiben. Ändern sich aber die Regeln des System, dann wird auch die „Kultur“ folgen, was jedoch nur ''top-down'' bewerkstelligt werden kann.

 

Zusammenfassend und pointiert: Eine Einzelperson praktiziert dann kollektive Verantwortung, wenn ihr Verhalten einen Beitrag zum „Umdenken“ in Richtung der korrekten Setzung von Prioritäten für die gedeihliche Weiterentwicklung der „Gesellschaft“ leistet. 

 

 

 

Beispiel 3: Digitalisierung (''bottom-up''-Herausforderung)

 

Die Situation kann in Analogie zum Gefangenendilemma beschrieben werden: Jeder Staat möchte im Zuge der Digitalisierung den größtmöglichen Vorteil für sich lukrieren – jedenfalls nicht ins Hintertreffen geraten. Dadurch wird eine Konkurrenzsituation erzeugt, die letztlich alle Teilnehmer zu Gegnern macht. Ungeachtet der Konsequenzen und ethischer Erwägungen werden Möglichkeiten ausgelotet gemäß dem technischen Imperativ: Machen, was machbar ist! Solange sich Staaten (und darin angesiedelte Unternehmen) sich als „Einzelspieler“ betrachten, wird diese Konkurrenzsituation nicht gelöst werden. Die Unsicherheit darüber, welche Fortschritte Staaten (und die von Ihnen geförderten Forschungen und Unternehmen) machen, zwingt jeden „Einzelspieler“ dazu, möglichst innovativ an erster Stelle zu stehen. Dieses Dilemma der „Einzelspieler“ kann nicht auf der Ebene der „Einzelspieler“ gelöst werden, wenn es keine übergeordnete, regelnde Instanz gibt. Sie kann nur dadurch gelöst werden, dass gemeinsame „Spielregeln“ von einer höheren Organisationsebene aus definiert werden, die ethischen Erwägungen gerecht werden, und eine Verletzung durch die anderen Mitspieler, die dann die Mehrheit darstellen, sanktioniert werden. Andernfalls wird dem „technischen Fortschritt“, der nichts anderes als eine Manifestation des „technischen Imperativs“ ist, alles andere untergeordnet. 

 

Dies ist derzeit am Beispiel 5G-Mobilfunkstandard erkennbar: Der Ausbau dient im Namen des „Fortschritts“, wohin auch immer, der Sicherung von Wettbewerbsvorteilen, so wird behauptet. Interessant dabei ist jedoch, dass ein Land wie Indien, das zu den wirtschaftlich stärksten Schwellenländern zählt, mit einem landesweiten IT-Schwerpunkt, die Grenzwerte für HF-EMF deutlich niedriger liegen, als jene in Deutschland, nämlich bei einem Zehntel (auch in der Schweiz, Frankreich und Polen). Wenn ''Best-Practice''-Beispiele betont werden, könnte doch dies als Beispiel dienen: Fortschritt ohne massiver Exposition. Fortschritt schließt Menschlichkeit nicht aus. Im Gegenteil: Fortschritt muss Fortschritt zu mehr Menschlichkeit beinhalten, andernfalls ist Fortschritt sinnlos, wenn Menschen darunter leiden. Dies wäre bei einem rigorosen 5G-Ausbau jedoch der Fall, wie Prof. Werner Thiede polemisch anmerkt: Was nützen einem Staat die erhofften ökonomischen Vorteile, wenn ein Großteil der Personen immense Gesundheitskosten erzeugt.

 

Demokratiepolitisch ist relevant: Fast in allen Städten, in denen Versuche mit 5G-Sendeanlagen durchgeführt wurden oder werden sollten, rebellierte die Bevölkerung dagegen. 93.000 Menschen haben bisher den internationalen Appell ''Stop 5G on Earth and in Space'' unterschrieben, davon 10.000e Wissenschaftler, darunter auch Ernst-Ulrich von Weizsäcker. 2017 appellierte die Ärztekammer in Österreich kabellose Netzwerke in Schulen, Vorschulen und Kindergärten zu verbieten. Grundlos? Das Problem: Wie passt das mit Digitalisierung zusammen? Aber auch: Wie passt dies mit der Lösung des globalen Umweltwandels zusammen? Der bekannte Physiker Harald Lesch fasste dies auf der Bildungskonferenz 2019 ''Beyond Knowledge'' (Literaturhaus München) in die Worte: „Wie z.B. sollen wir Klimaziele erreichen, wenn wir immer mehr elektrische Energie benötigen?“ Aber eben nicht nur Klimaziele: Bereits Hans-Peter Dürr beschrieb das Konzept der „Energiesklaven“ pro Person, die die Biosphäre des Planeten belasten. Um die Thematik zu Erweitern: Der Zusammenhang mit dem Schutz zukünftiger Generationen wird durch das Collingridge-Dilemma hergestellt (siehe Punkt 3). 

 

Es kann zwar nicht die gesamte Debatte des Für-und-Wider zur Implementierung von 5G resümiert werden, doch sollen im Sinne dieses Beispiels die ethischen Argumente präzise nachgezeichnet werden: 

 

(1) Die Grundfrage der Risikoethik lautet: Wenn es rechtlich verboten ist andere Menschen zu schaden (abgesehen von Ausnahmen wie „Notwehr“), und dieser Bezug wird von Gegnern des „flächendeckenden“ 5G-Ausbaus mit Bezug auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Charta der Grundrechte der EU) explizit hergestellt, ist es dann ethisch legitim ihnen (absichtlich oder unabsichtlich) Risiken aufzubürden, die zu einem Schaden führen können bzw. ab welcher Höhe der Wahrscheinlichkeit? Darauf gibt es verschiedene Antworten. Um dies abzukürzen: Die grundlegende Erkenntnis, die alle diese Antworten auf einen Nenner bringt, lautet: Es ist jedenfalls ethisch nicht legitim, anderen Personen durch eigene Aktivitäten Risiken aufzubürden, wenn die Wahrscheinlichkeit permanent steigt, dass es zur Verletzung des Grundrecht auf Unversehrtheit kommt, da dadurch die Wahrscheinlichkeit permanent steigt, dass es verletzt wird. Die Antwort bezieht sich daher auf Art, Intensität und Dauer einer risikoerzeugenden Aktivität. Die Lösung nach diesem Argument wäre wie folgt: Die ethische Aufforderung, dass, sobald diese Technologien Teil eines Teils der Lebenswelten einzelner Personen geworden sind, explizit auf die Vorwarnungen zu achten, um rechtzeitig gegensteuern zu können, bevor das Collingridge-Dilemma Realität wird.

 

(2) Das Grundproblem ist jedoch im vorliegenden Fall genuin ethischer Art: In einer liberalen Gesellschaft muss es Personen erlaubt sein, sich selbst Risiken auszusetzen, wenn sie bereit sind, die Konsequenzen für sich selbst zu tragen. Doch in der Regel wird keine Person gewillt sein, Risiken bewusst auf sich zu nehmen, wenn sie davon keinen Nutzen hat. Genau dies ist aber der Fall bei einer „Zwangsexposition“ (Bundesdelegiertenversammlung des Bundes für Umwelt und Naturschutz): Jede Person, unabhängig davon, ob sie einen Nutzen in Anspruch nimmt, wird diesem Risiko ausgesetzt, zusätzlich zu den bereits bestehenden EMF-Quellen (siehe Argument 1). Nach diesem Argument wäre daher die Lösung wie folgt: Die ethische Aufforderung besteht darin, dass Menschen nur dann exponiert werden sollten, wenn sie, als Bürger eines liberalistischen Staates, eingewilligt haben, d.h. einen Nutzen in Anspruch nehmen, etwa durch separat eingerichtete Plätze oder Räume. Hinzugefügt sei: Es gibt zahlreiche Anwendungen, die nicht zwingend den Menschen selbst betreffen, sondern in der Industrie oder Automatisierung eingesetzt werden sollen. Überall dort, wo sie für den Menschen ungefährlich sind, besteht dieser ethische Appell nicht.

 

(3) Der Begriff des Risikos bezeichnet die Angabe von Wahrscheinlichkeiten, d.h. es handelt sich um keine Prophezeiung oder eine Gefahr, die mit nahezu 100% Wahrscheinlichkeit einen Schaden ohne Schutzmaßnahmen bewirken würde, sondern: Erhöht oder vermindert eine Aktivität die Wahrscheinlichkeit zu einem Schadereignis? Die Annahme, dass Menschen, die sich permanent in HF-EMF befinden, die Wahrscheinlichkeit erhöht, ist an sich plausibel. Die Debatte über die Gefährlichkeit oder das Risiko von 5G-Technologien wird technisch durch die Unterscheidung von ionisierender und nicht-ionisierender Strahlung durchzogen. Diese Unterscheidung stammt von der International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP), einem nicht demokratisch legitimiertem Gremium, deren Bezugswert von 1998 bis dato die staatliche Grenzwert-Thematik dominiert: Die Strahlung ist erst dann, und ausschließlich dann, gesundheitsbeeinträchtigend, wenn sie messbar das Gewebe erwärmt, wie Mikrowellen-Strahlung. Nahezu alle anderen wissenschaftlichen Gremien (darunter EEA, teilweise die WHO) halten diesen Wert längst für überholt, auch die Aggregationswirkung verschiedener Strahlenquellen simultan, sowie die Problematik, dass es den Menschen an Regenerationszeiten außerhalb von HF-EMF fehlt („Langzeitwirkung“), die die Schweiz zu deutlich niedrigeren Grenzwerten veranlasst hat, wird dadurch völlig vernachlässigt. Es handelt sich aber auch um ein wissenschaftstheoretisches Problem (abgesehen davon, dass Grenzwerte stets das Resultat politischer Aushandlungsprozesse sind): Wieso sollte ein Erklärungsmodell weiterhin Gültigkeit besitzen, wenn bereits ein anderes viel schlüssigere Erklärungen liefert, wonach HF-EMF oxidativen Stress erzeugen, der zahlreiche Erkrankungen begünstigt (Risiko) und nachweislich den Alterungsprozess forciert, weil alle biologischen Prozesse elektromagnetische inkludieren. 

Angenommen jedoch beide Erklärungsmodelle wären gültig. Aus der Position des Laien ohne technisches Wissen, der zwangsläufig beide Positionen für gleichberechtigt halten muss, bestünde eine Patt-Situation. Unter Anwendung des Vorsorge-Prinzips ist dies jedoch ethisch lösbar: Akzeptiert man diese Patt-Situation, so stellt dies eine Situation hoher Ungewissheit dar. Im Umgang mit Ungewissheiten gibt es jedoch Entscheidungsregeln. Das Vorsorge-Prinzip gebietet daher, dass Vorsorge praktiziert werden sollte, solange diese Ungewissheit besteht: Wenn sich die Kritiker irren sollten, und die gesundheitlichen Risiken „hysterisch übertrieben“ sein sollten, dann zieht dieser Irrtum keine negativen Folgen nach sich. Wenn sich die Befürworter irren, dann wäre das Ergebnis womöglich katastrophal. Es steht wohl diese ethische Überlegung im Hintergrund, die zunächst Brüssel, Genf, Florenz erwogen haben, sich dieser Technologie zu verweigern. Nach dem Vorsorge-Prinzip müsste der tatsächliche Beweis der Unbedenklichkeit geliefert werden, bevor (!) die Technologie implementiert wird, im Gegensatz zum U.S. Rechtssystem. Die ICNIRP (Eric van Rongen) favorisiert jedoch die gegenteilige Position: Sie seien nicht überzeugt, dass HF-EMF nachweislich gesundheitsschädlich sind. Das bedeutet präzise: Solange für die ICNIRP nicht zweifelsfrei bewiesen ist, dass ein reales Gesundheitsrisiko besteht, ist es legitim, den Ausbau ungehemmt voranzutreiben. Mit anderen Worten: Umso mehr Ungewissheit, desto weniger/keine Vorsorge ist geboten. Diese Meinung ist tatsächlich offizielle EU-Gesundheitspolitik in Fragen des Mobilfunks. Das Problem dabei: Das Collingridge-Dilemma: Sobald diese Beweise vorliegen, ist eine Gesellschaft so abhängig von der gefährlichen Technologie, dass es kein Zurück mehr gibt.  Die demokratiepolitische Frage ist jedoch: Wieso genießt die Meinung eines Gremiums Vorrang vor allen anderen wissenschaftlichen Gremien (z.B. U.S. Bioinitiative; U.S. National Toxicology Program), die diese Ansicht nicht teilen, also der Meinung sind, es sei einwandfrei bewiesen. Zumal „Vorwarnungen“ existieren, die zwar keine eindeutigen Beweise liefern, aber an sich schon deutlich machen, dass keine Unbedenklichkeit besteht, so bereits die EEA schon seit 2007, deren Bedenken immer häufiger bestätigt werden. Die Studien und Metastudien zeichnen ein relativ einheitliches Bild, dass es sich um keine trivialen Risiken handelt (z.B. nach Isabel Wilke, sowie Stephen Genius/Christopher Lipp). Dies wird auch in so manchem Jahresbericht der Telekom-Konzerne eingestanden. Was ist die Lösung: Laut ökonomischen Expertenmeinungen seien die einzig rentablen Geschäftsmodelle für 5G ohnehin nur in der Automatisierung zu finden. Politisch treibt wohl eher die Faszination der Innovation voran, denn die dadurch propagierten Möglichkeiten seien mitunter „Mythos“, der die Faszination schüren soll. Sogar diverse europäische Telekom-Unternehmen halten den 5G-Ausbau für eine politische Agenda, die technisch unreif ist (Jorge Graça). 

 

Die gesamte Debatte wird basierend auf Hansson (2004) von fünf Fehlschlüssen durchzogen, die im Sinne der Prävention und des Titelthemas des Beitrags von allgemeinem Interesse sind. Drei davon lauten: ''ostrich’s fallacy'' (Wenn ein Effekt nicht messbar ist, dann ist er auch nicht relevant.), ''proof-seeking fallacy'' (Wenn kein wissenschaftlicher Beweis besteht, muss auch keine risikominimierende Maßnahme eingeführt werden), ''infallibility fallacy'' (Experten und die Öffentlichkeit schätzen X unterschiedlich ein, also irrt sich die Öffentlichkeit zwangsläufig). 

 

Zwei davon sind besonders relevant: Der ''delay fallacy'' (Solange kein gesichertes Wissen über X besteht, muss bezüglich X auch keine Entscheidung getroffen werden), dominiert offenbar die vorliegende Debatte. Dieser Fehlschluss ist ein Fehlschluss, weil in den meisten Fällen nie vollständige Gewissheit vorherrscht. Abwarten bis eine solche de facto vorherrscht, ist ein Fehlschluss, weil nicht angenommen werden darf, dass dies tatsächlich jemals der Fall ist – u.a., weil neues Wissen auch alte Standpunkte infrage stellen kann – , auch wenn es das sein könnte. Deshalb kann dieses Argument eigentlich immer angeführt werden, um risikominimierende Maßnahmen zu vermeiden, bleibt aber genau aus diesem Grund ein Fehlschluss. Hansson nennt sie daher eine der gefährlichsten Fehlschlüsse. Die Vermeidung dieses Fehlschlusses gelingt durch die Vermeidung des ''proof-seeking fallacy'': Der Fehlschluss des nötigen Beweises besitzt laut Hansson zwei Typen: (a) Es wird ein Risiko vermutet, wo keines existiert, (b) es wird ein Risiko übersehen. Da laut Hansson im Risikomanagement Typ (b) Fehler schwerwiegender sind, sollten mehr Typ (a) Fehler akzeptiert werden, um Typ (b) Fehler zu vermeiden. Vielleicht eine Lektion für die Zukunft, angesichts dessen, dass die Menschheit offenbar mehrere globale Probleme verursacht hat, die es noch zu lösen gilt. 

 

Der ''infallibility fallacy'' lässt sich zudem durch die  ''technocratic fallacy'' lösen: Die Messung von Risiken ist lediglich eine Vorbedingung. Die Akzeptanz von Risiken ist stets verknüpft mit Werten. Nach dem technokratischen Fehlschluss werden Risiken als „wissenschaftlicher“ dargestellt, als sie es eigentlich sind. Die Frage der Akzeptanz von Risiken ist daher weniger eine wissenschaftliche, als eine demokratische, basierend auf Werten, die die Mehrheit der Bürger vertreten.

 

Um die Brücke zur eingangs erwähnten Thematik unter (II) zu schlagen: Laut dem U.S. Senator Richard Blumenthal handle es sich dabei demokratiepolitisch um eine Ignoranz und Missachtung der Institutionen gegenüber den Bürgern. Wenn solch immense Gegenbewegungen seitens der Bürger stattfinden, dann sollten politische Institutionen in demokratischen Staaten sich dazu auffordern lassen, diese Bedenken ernst zu nehmen und eine tatsächliche Prüfung vornehmen, und die Thematik „einfrieren“, bevor sie weiter verfolgt wird. 

 

Literatur: 

 

Adam, B., and Groves, C. (2011): “Futures Tended: Care and Future-Oriented Responsibility.” Bulletin of Science, Technology & Society 31/1, 17–27

 

Brunnhuber, R., (2017): Ein Panorama des Weltethos. Zur ethischen Tiefgründigkeit

und praktischen Relevanz. Ein Überblick, Vortragsreihe des Human and Global Development Research Institute (DRI), Wien

 

Brunnhuber, R., Abed-Navandi, M. (2017): Die Lehre der Risikopotenziale im Umgang mit Risiken, in: Risiko Manager. Fachzeitschrift für Risiko-Experten, 04/2017, 40-49

 

Sven Ove Hansson (2004): Fallacies of risk, Journal of Risk Research, 7:3, 353-360

 

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