Zur Evolution der Menschlichkeit (Teil 1 von 3)

Von Mag. Dr. Nana Walzer, Senior Researcher, DRI

 

Teil I: REGRESSTENDENZEN versus PROGRESSBESTREBUNGEN

 

Entwickelt sich die Menschheit überhaupt? Und wenn ja: wohin? 

 

Was macht für die meisten Menschen heute mehr Sinn und bietet am meisten Sinnlichkeit: Unmenschlichkeit (Grausamkeit anderen gegenüber), selbstbezogene Menschlichkeit (Eigennutz) oder Mitmenschlichkeit (das Miteinbeziehen anderer bis hin zu Allgemeinwohl in das eigene Denken und Handeln)?

Ersten Reaktionen auf diese Frage sind oft negativ: „Menschen hatten damals noch Anstand, man hatte noch dieselben Werte. Heute schaut nur noch jeder auf sich selbst.“ Betrachten wir die Welt von heute allerdings nüchtern-analytisch, so zeichnet sich ein wesentlich positiveres Bild ab. Wenn schon nicht auf den ersten Blick für uns hier in Europa, so doch für die Welt: Hunger, Kindersterblichkeit, Krankheiten, Lebenserwartung, Armut – haben sich stetig verbessert. Allesamt Faktoren, die für „Lebensqualität“ sprechen und zu besseren Lebensumständen führen. Die Adiposität, das krankhafte Übergewicht, wächst stattdessen weltweit unglaublich. Aber die Wellen von Finanzcrash, Wirtschaftskrise, Digitalisierung, Globalisierung – und natürlich die obligate Flüchtlingskrise haben gemeinsam mit dem populistischen Schüren von Zukunftsängsten ein Klima der permanenten Verunsicherung erzeugt. Ohne die Hintergründe für das Gefühl, dass alles außer Kontrolle geraten ist, meist genauer zu verstehen (siehe VUCA, also Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität unserer Zeit), spüren Menschen, dass sich seit einigen Jahren etwas Grundlegendes massiv verändert. Die Welt scheint aus den Fugen. Die Schere von arm und reich geht kontinuierlich weiter auf, etwa 80 Millionen Menschen sind in Europa armutsgefährdet, 1,5 Mio. Menschen hier in Österreich. Die Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Jugendarbeitslosigkeit sind Themen, die das soziale Gleichgewicht in ganz Europa massiv gefährden. Menschen verlieren die Hoffnung – und es wird ihnen auch keine realistische Hoffnung gemacht.

 

Unsicherheit oder Möglichkeit?

 

Physisch geht es den meisten hier vor Ort meist gar nicht so schlecht, die psychische Befindlichkeit ist jedoch eine andere und beeinflusst mittlerweile ganze Gesellschaften (Stichwort social mood). Die Hoffnung auf ewigen Aufschwung, auf immer mehr Gehalt, auf satte Pensionen, auf ein gemütliches Leben im Wohlstand ist geschwunden, alternative und realistische positive Zukunftsvorstellungen eines erfüllten Lebens gibt es kaum. Das Gegenteil von Hoffnung ist jedoch die Angst. Beides sind Erwartungen, also Einschätzungen der Zukunft. Vor der Zukunft liegt das Jetzt. Und dazwischen, zwischen Hoffnung und Angst, ist die Unsicherheit zu verorten. Wir wissen nicht, wie sich alles entwickelt, wohin die Reise geht, wir alles ausgeht.

Waren die Regeln in der Zeit der Industrialisierung, im Informationszeitalter, im Konsumzeitalter und im Erlebniszeitalter noch relativ klar, so sind sie heute im Zeitalter ständiger und unheimlich rascher Veränderungen – manche nennen dieses Zeitalter „The Age of Possibility“ – höchst unklar. In diesem Klima der Unsicherheit sehen sich Menschen heute vor die Wahl gestellt. Wie sollen sie darauf reagieren? Jeder Mensch hat prinzipiell 2 Wahlmöglichkeiten, denn die Unsicherheit hat 2 Seiten und beide werden begleitet von Furcht und Hoffnung. In der einen Sichtweise überwiegt die Angst, in der anderen die Zuversicht. Es gibt daher auch zwei Varianten, die eigene Freiheit zu nutzen, sein Leben zu gestalten, um die Furcht zu verlieren. Die Reaktionsweisen sind entsprechend der Progress oder der Regress. 

 

Fortschritt oder Rückschritt

 

Regress geht leicht, es ist unsere automatisierte, gewohnte Verhaltensweise unter Stress. Die meisten Menschen stehen heute unter Dauerstress. Überforderung im Berufsleben, Unerreichbarkeit von Erfolgsbildern wie Eigenheim oder auch nur finanzielle Sicherheit, prekäre Arbeitsplätze, ständige Erreichbarkeit, zu wenig Bewegung, schnelles Essen, zu viel Alkohol, zu wenig tiefgehende Beziehungen – all das trägt zu einem äußerst unangenehmen, unentspannten Körperzustand mit entsprechend hohem Kortisol-Level bei. Wir atmen heute wesentlich schneller als noch vor 100 Jahren. Stress erzeugt zugleich Angstgefühle, die zunächst in nach innen oder außen gerichtete Impulse kanalisiert werden (von Wutausbrüchen über Trauer hin zur Krankheit). Chronischer Stress höhlt jede Zuversicht in sich selbst, die Gesellschaft und die Zukunft langsam aus, da er die Kraftreserven erschöpft, und negative physische und psychische Veränderungen bewirkt. Stressreaktionen haben uns Menschen bekanntlich ursprünglich durch Flucht oder Angriff vor dem Säbelzahltiger gerettet. Aber Stress ohne Regeneration führt zu psychischer Belastung, von Überreiztheit bis hin zu gesteigertem Aggressionspotenzial, Schlaflosigkeit, Depression oder Burnout. 

Die beiden üblichen Wege, mit Stress umzugehen sind grundverschieden. Einer ist automatisiert und der andere ist nicht selbstverständlich. Und das ist die Wahl, vor der Menschen heute stehen: Rückzug auf Altbekanntes, vermeintliche Sicherheit Versprechendes oder Fortschritt in eine unbekannte Zukunft. Abwehr oder Aufbruch. Und wenn schon Aufbruch: Heftige, plötzliche Revolution oder sanfte, sukzessive Evolution?

Regress, die Reaktion der Abwehr, wurzelt in der Angst und ist gekennzeichnet von einem überdimensionalen Problemfokus, auf den mit Flucht oder Rückzug auf kindliche Verhaltensmuster reagiert wird – wie etwa die Suche nach „starken Männern“, die uns beschützen. Ignoranz ist übrigens auch eine Form von Abwehr. Wer also von all dem, was in seiner Welt passiert, nichts wissen will, steckt ebenso im Regress. Autoritäre, anti-demokratische Entwicklungen sind Folgen der permanenten Verunsicherung. Auch der Versuch, die eigene Verantwortung an Autoritätspersonen abzugeben entspringt der Suche nach Sicherheit. Die sinnvollsten Antworten auf Unsicherheit liegen jedoch viel näher, nämlich im Bereich der Selbstermächtigung einzelner und im Wirkungsfeld gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die dazu geeignet sind, mit Krisen aller Art mitmenschlich und lösungsorientiert zugleich umzugehen. Für die konstruktive Bewältigung von herausfordernden Situationen braucht es daher stabile Menschen in einem stabilen gesellschaftlichen System.

 

Lesen Sie weiter im nächsten Blogbeitrag von Nana Walzer

Zur Evolution der Menschlichkeit, Teil II: Auf dem Weg zur gesunden Gesellschaft

 

Interessiert? 

 

Mag. Dr. Nana Walzer, Senior Researcher und Mag. DDr. Peter Gowin, Vorstand, DRI, stehen gerne für Vorträge, Abendveranstaltungen, Diskussionen, Briefings oder Seminare zu diesem Thema für Unternehmen, NGOs, Bildungseinrichtungen, Verwaltung oder Politik oder in anderem Rahmen zur Verfügung. 

 

Bitte kontaktieren Sie Dr. Walzer direkt unter: nana.walzer@development-institute.org. Wir freuen uns auf das Gespräch!

 

 

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