In diesem Buch von Prof. B. Sindelar (links), Prof. R. Popp (rechts) und Prof. B. Rieken werden - erstmals im deutschsprachigen Raum - die Grundfragen der psychologischen und psychotherapiewissenschaftlichen Zukunftsforschung systematisch analysiert. Das DRI hat mit Prof. Sindelar über das Buch gesprochen:
DRI: Sie haben ein neues Buch herausgebracht: Worum geht es darin?
Prof. Sindelar: Wir haben das Buch zu dritt geschrieben: Prof. Reinhold Popp, Prof. Bernd Rieken und ich. In dem Buch geht es um Zukunftsforschung aus psychologischer und psychotherapiewissenschaftlicher Perspektive. Projekte und Publikationen zur Zukunftsforschung fokussieren zumeist auf technische, gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Zukünfte. Wir setzen den Schwerpunkt auf den subjektiven Faktor, indem wir Psychologie und Psychotherapiewissenschaft, hier vor allem in ihrem psychodynamischen, konkret: psychoanalytisch-individualpsychologischen Aspekt, zur Ausgangsbasis nehmen. Obwohl dieser Zugang in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eher Seltenheitswert besitzt, ist er doch naheliegend, denn die technischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Zukünfte sind letztlich deswegen für uns Menschen so interessant, weil sie unsere subjektive, also unsere persönliche, individuelle Zukunft maßgeblich bestimmen und zugleich von uns Menschen gemacht werden.
DRI: Aus Sicht des Buches: Welche psychische Entwicklung brauchen wir, um fit für die Zukunft zu sein?
Prof. Sindelar: Naja, das Buch hat nicht den Charakter eines Zukunfts-Ratgebers, daher ist diese Frage nicht direkt mit Zitaten aus dem Buch zu beantworten. Aber es lassen sich aus dem Buch Schlüsse ziehen, die zu Antworten auf Ihre Frage, die eben diesen subjektiven Faktor anspricht, führen können. Der Begriff „Zukunftsforschung“ verführt zur Idee, dass es möglich sei, die Zukunft zu erforschen, was eine Fehlinterpretation ist. Wenn wir von den naturwissenschaftlich erforschbaren Zukunftsentwicklungen, die auch durchaus langfristige Prognosen in ihrem Bereich erlauben, absehen, kann eine psychodynamische Zukunftsforschung aber wissenschaftlich begründete plausible Annahmen treffen, die Herkunft und Zukunft verknüpfen.
Es geht also nicht um die „zukünftige Wirklichkeit“, wie Kollege Popp es ausführt, nicht um die Zukunft, wie sie wirklich sein wird, sondern um Wissen über Handlungsoptionen, über deren Risiken und Gefahren, aber vor allem auch über deren Chancen. Und wenn wir uns jetzt vor Augen halten, dass Zukunftserwartungen und Zukunftswünsche immer ein übergeordnetes gemeinsames Ziel im Erreichen einer höchstmöglichen Sicherheit haben, dann wird auch klar, dass die Idee, wie wir diese Sicherheit erreichen können, unser individuelles und institutionelles Handeln bestimmt.
Hier treffen wir auf das von Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie, bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts formulierte Konzept des Lebensstils. Damit meint er allerdings nicht das, was wir heute als „Life Style“ bezeichnen, sondern unsere jeweils aufgrund unserer individuellen Erfahrungen, also unserer Vergangenheit, entwickelten Vorstellungen, wie wir diese Sicherheit in allen Dimensionen des Lebens am besten erreichen können. Diese Vorstellungen, die unbewusst oder zumindest „unverstanden“ sind, um wiederum einen individualpsychologischen Begriff zu verwenden, gestalten unser Denken, Fühlen und Handeln.
Das heißt nun, in Bezug auf Ihre Frage: Eine psychische Entwicklung, die uns zu Mitmenschen statt zu Machtmenschen macht, hat das höchste Potential für eine konstruktive Zukunftsgestaltung, sowohl im Individuellen als auch im Gemeinschaftsleben. Und eine solche findet durch förderliche zwischenmenschliche Beziehungen statt. Dazu hat gerade die entwicklungspsychologische und die psychotherapiewissenschaftliche Forschung eine Fülle von Ergebnissen geliefert, die mittlerweile auch neurowissenschaftliche Bestätigung gefunden haben. „Fit“ heißt daher in diesem Zusammenhang weit mehr als „leistungsstark“, nämlich sowohl kognitiv, aber vor allem auch emotional und sozial kompetent.
DRI: Und sehen Sie dabei einen Zusammenhang zu globaler nachhaltiger Entwicklung?
Prof. Sindelar: Ja. Wir Menschen sind in einer gefährlichen Schieflage der Entwicklung: Unsere kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten überragen unsere emotionale und soziale Reife bei weitem. Um es mit Erwin Ringel zu sagen: „Der Mensch weiß mehr als er versteht“. Es ist die Entwicklung des Individuums und der menschlichen Gemeinschaft, also eben dieser subjektive Faktor jener, der die Zukunft gestaltet. Technische, gesellschaftliche, ökonomische und auch ökologische Zukünfte werden vom Menschen gemacht. Die Schwierigkeit bzw. das Risiko und die Gefahr liegt darin, dass die Nachhaltigkeit unserer gegenwärtigen Gestaltungen für die Zukunft von uns aufgrund unserer sozialen und emotionalen Defizite unterschätzt wird.
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